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Juni 1996
Aus dem Reisebericht von 1996
Für Karfreitag, an dem unzählige Prozessionen
mit realistischen Kreuzigungsszenen die Straßen
von Cebu City durchziehen, verabreden wir uns zu
einem Gespräch mit der
Menschenrechtsorganisation Task Force Detainees -
was soviel heißt wie Einsatzgruppe für
politische Gefangene -, die das Büro mit dem
Entwicklungszentrum der "Städtischen
Armen" teilt. Die Menschenrechtler und die
Organisatoren der "Städtischen Armen",
die hier in dem kleinen Büroraum, der eher wie
ein Lagerraum wirkt, versammelt sind, kämpfen
gemeinsam gegen die Verletzung der
wirtschaftlichen und sozialen Rechte der
Städtischen Armen. Im Großraum Metro Cebu, der
aus den drei miteinander verwachsenen Städten
Cebu City, Mandaue City und Lapu-Lapu City
besteht, wohnt etwa 1 Million Menschen, davon
sind knapp 70% "Städtische Arme",
insgesamt 130.000 Familien. Sie leben in 26
Stadtbezirken, die zu Wohngebieten für
"Städtische Arme" erklärt worden
sind. Im Zuge der rasanten Entwicklung des
Wirtschaftszentrums Metro Cebu werden sie häufig
willkürlich und ohne Kompensationszahlung aus
ihren Wohngebieten zwangsumgesiedelt oder einfach
durch eine Zerstörung ihrer Häuser
vertrieben.Allein im ersten Quartal 1996 fielen
die Wohngebiete von 3200 Familien der Zerstörung
zum Opfer, überwiegend zur Förderung des
Tourimus. Das Ministerium für Tourismus hat
nämlich Cebu zur Nummer eins in der
Tourismusförderung erklärt "wegen seiner
gesunden und friedlichen Geschäftsatmosphäre
und der Nähe zu erholsamen Badestränden am
Meer". Leider hatte aber keiner der an
unserem Tisch versammelten Gesprächspartner
diese idyllischen Badestände bisher besuchen
können. Es ist einfach zu teuer für sie. Die
Kehrseite der Tourismusförderung ist die Zunahme
der Prostitution. 1995 ist die Zahl der offiziell
registrierten Prostituierten um 300 auf 3200
angestiegen und an den Badestränden findet man
in großem Maßstab Kinderprostitution.
Die philippinische Regierung versucht in großem
Maßstab, ausländische Investoren durch
günstige Angebote und steuerliche Anreize ins
Land zu locken. In Cebu wird diese Entwicklung
von der Familie Osmena gefördert, die zu den 100
Familien zählt, denen noch von der spanischen
Kolonialzeit her Reichtum, Boden und politische
Macht auf den Philippinen gehören. Den Namen
Osmena tragen oder trugen Senatoren, Gouverneure,
Bürgermeister und andere Inhaber wichtiger
Funktionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft
auf Cebu.
Die Entwicklung von Cebu bedeutet für die
Mehrzahl der Einwohner eine soziale und
wirtschaftliche Rückentwicklung. Die
Lebenshaltungskosten sind innerhalb eines Jahres
um 11% gestiegen. Eine geringfügige Anhebung der
Mindestlöhne gilt nicht für die überwiegend im
Dienstleistungsgewerbe Beschäftigten, die nur
saisonal und zu irregulärer Bezahlung
Beschäftigung erhalten.
Der Kellner, der uns bei einem Abendessen im Cafe
Cesario gegenüber unserem Hotel bedient,
verdient an einem Zwölfstundentag 120 Pesos. Am
Trinkgeld hat er keinen Anteil. Demgegenüber
steht die amtliche Angabe, daß die Armutsgrenze
für eine philippinische Durchschnittsfamilie von
sechs Personen bei etwa 490 Pesos pro Tag liegt.
Seine Frau arbeitet daher als Verkäuferin auf
dem Markt. Ihre drei Kinder sind bei Nachbarn
oder Verwandten. Während er uns das erzählt,
sieht er sich dauernd um, offensichtlich hat er
Angst um seinen Arbeitsplatz. Wir geben außer
dem offiziellen Trinkgeld heimlich ein
inoffizielles, das er behalten kann.
Die Gesprächsteilnehmer an unserem runden Tisch
stammen alle aus den Siedlungsgebieten der
Städtischen Armen. Was uns verblüfft, ist ihr
Mut, ihr Selbstvertrauen und die Fröhlichkeit,
mit der sie ihre gigantischen Probleme angehen.
Die vielen angeblich schweren Probleme in
Deutschland schrumpfen aus der Ferne bei der
Konfrontation mit wirklichen Problemen.
Armutsgrenze heißt hier nicht Konsumverzicht
sondern Unterernährung, Mangelkrankheiten und
Tod. Niemand hier wird durch ein soziales Netz
aufgefangen. Dafür ist die familiäre und
mitmenschliche Solidarität stärker. Sie endet
allerdings auch hier an den Bruchstellen der
sozialen Schichtung, die Oberschicht verteidigt
ihre Privilegien kompromißlos. Diese
Gesellschaft weist alle Merkmale auf, die bei uns
als Vorbedingung für einen Aufschwung genannt
werden. Die Löhne sind konkurrenzlos niedrig,
Lohnnebenkosten gibt es fast nicht,
Kündigungsschutz gibt es nicht, Lohnfortzahlung
gibt es nicht. Das Bruttosozialprodukt stieg in
den letzten Jahren um jeweils etwa %. Aber - die
offizielle Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor
bei mehr als 20%, die verdeckte durch
Unterbeschäftigung und Selbstbeschäftigung hebt
sie auf nahezu 50% an. Dafür aber kann sich eine
schrankenlos reiche Elite Dienstleistungen, z.B.
in Form von Haushaltshilfen, fast zum Nulltarif
kaufen. Südostasien, das Vorbild für unsere
Wirtschaft?
Marylen Cinco, Sozialarbeiterin des
Entwicklungszentrums der Städtischen Armen, die
uns mit ihren Kenntnissen der Verhältnisse in
Deutschland, vor allem der sozialen Entwicklung
verblüfft, ist in Ermita, einem Wohngebiet der
Städtischen Armen, geboren und aufgewachsen. Sie
hat unter großen Opfern ihrer Eltern die Schule
und dann das College besucht und hat ihre
Hochschulausbildung als staatlich anerkannte
Sozialarbeiterin abgeschlossen. Während ihrer
gesamten Schulzeit mußte sie als Verkäuferin
auf dem Markt arbeiten.
Sie erzählt von einem der wichtigsten Projekte,
das sie zusammen mit den
Selbsthilfeorganisationen der einzelnen
Wohngebiete angepackt hat, die Versorgung mit
Frischwasser. In zähen Verhandlungen wurde
erreicht, daß die Stadt Einspeisestellen für
Trinkwasser zur Verfügung stellt. Die
Wasserabgabe durch die Stadt erfolgt zur Hälfte
des Preises, der bei Einzelabgabe an viel weiter
entfernten städtischen Wasserzapfstellen gezahlt
werden muß. Das Verlegen einer Wasserleitung von
der städtischen Versorgungsleitung bis in das
jeweilige Wohngebiet ist Sache der lokalen
Organisation. Die lokale Selbsthilfeorganisation
schlägt etwa 20% des Preises auf. Damit wird
eine Stelle für die Verteilung des Wassers, die
Abrechnung und den Service für die zentrale
Zapfstelle eines Wohnbezirks geschaffen. Zum
anderen wird die Organisation finanziert und Geld
für weitere Wasserprojekte angesammelt. Bisher
sind drei der elf Wohngebiete, die über eine
Selbsthilfeorganisation verfügen und Mitglied
der Dachorganisation der Städtische Armen sind,
auf diese Weise an Trinkwasser angeschlossen.
Am Nachmittag brechen wir nach Ermita auf, um
eine Wasserversorgung anzusehen. Elendsviertel
oder Slum würden wir in Europa zu diesem
Wohnviertel sagen, aber wir müssen uns ins
Gedächtnis rufen, daß nahezu 70% der Einwohner
von Metro Cebu in solchen Verhältnissen leben.
Es sind keineswegs verwahrloste Menschen von den
Rändern der Gesellschaft, sondern die Mehrzahl
der Bewohner von Cebu City, die nicht zur
Oberschicht gehören und die sich bemühen, aus
diesen Verhältnissen ohne Müllabfuhr, ohne
Kanalisation oder sonstige Infrastruktur, die wir
in Europa alle so selbstverständlich finden, das
Beste zu machen. Es ist auffällig, daß fast
alle Menschen hier aussehen, als hätten sie ihre
Kleidung gerade erst frisch gewaschen und
gebügelt. Wie sie das trotz der mangelhaften
Wasserversorgung schaffen, ist uns unbegreiflich.
Was uns weiter auffällt, ist das konfliktarme
Spiel der Kinder untereinander. Die Präsidentin
der Selbsthilfeorganisation von Ermita erläutert
uns dann, wie die Wasserverteilung organisiert
ist.
Uns fasziniert diese Selbsthilfe, die das
lebensspendende Wasser beschafft und die
Entwicklung der Gemeinschaft fördert. Ein
solches Projekt paßt sehr gut in die Zielsetzung
der Aktion Wasserbüffel.
Wir fragen Marylen, ob sie innerhalb einer Woche
einen Projektvorschlag zur Versorgung eines
weiteren Wohngebietes ausarbeiten kann. Als wir
eine Woche später am Flughafen eintreffen,
erwarten uns Marylen und die Vorsitzende der
Frauenliga der Städtischen Armen, Violeta
Jacmoc, am Flughafen. Mit einem uralten
ausgeliehenen Lieferwagen fahren wir gemeinsam
ins Hotel und sparen auf diese Weise sogar die
Taxikosten von 100 Pesos. Beim Abendessen
legen sie uns ihren ausgearbeiteten Vorschlag
vor.
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